Hirnforschung


Über Bewußtsein und unsere Grenzen:
Ein neurobiologischer Erklärungsversuch
Prof. Dr. Wolf Singer
Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt/Main

Die Suche nach Wesen und Herkunft von Bewußtsein ist mit epistemischen Problemen behaftet wie nur wenig andere. Eines folgt aus der Zirkularität des Unterfangens, da Explanandum und Explanans eins sind. Das Erklärende, unser Gehirn, setzt seine eigenen kognitiven Werkzeuge ein, um sich selbst zu begreifen. Ein kognitives System beugt sich über sich selbst, um sich zu ergründen und im Spiegel seiner eigenen Wahrnehmung zu erkennen. Wir wissen nicht, ob dieser Versuch gelingen kann. Ein weiteres Problem erwächst aus der Eigentümlichkeit, daß sich der Mensch in zwei verschiedenen Beschreibungssystemen darstellt. Diese erscheinen uns unvereinbar und wir wissen nicht, ob diese Unvereinbarkeit prinzipieller Natur ist oder ob unsere kognitiven Fähigkeiten lediglich zu begrenzt sind, um die Widersprüche aufzulösen. Es gelingt uns zwar, Phänomene aus dem einen Beschreibungssystem mit korrespondierenden Phänomenen aus dem anderen zu korrelieren. Aber wie sich zeigen wird, bleiben unsere Syntheseversuche unbefriedigend. Wir verfügen zur Zeit über kein widerspruchsfreies Bild vom Menschen, und dies ist ein Problem, das die Hirnforschung befördert hat.
Zum einen sind da die Attribute unseres Menschseins, die wir aus der ersten Person-Perspektive erschließen und beschreiben. Es sind dies die Qualitäten und Inhalte unserer Gefühle, Wahrnehmungen und Selbsterfahrungen. Es sind dies Phänomene, die erst durch uns in die Welt gekommen sind, spezifisch menschliche, an Kultur gebundene Phänomene, die sich der Existenz von Wesen verdanken, die über Bewußtsein verfügen. Die Rede ist von Phänomenen, die wir nur selbst wahrnehmen können, die sogenannten Qualia, die erst in unserem Erleben wirklich werden. Glück, Schmerz, Leid, Stolz, Schmach und Kränkung sind nicht, wenn sie nicht erfahren werden. Und gleiches gilt für die Inhalte unserer Wertungen, für moralische Urteile und ethische Setzungen. Schließlich sind da die Phänomene, die aus unserer Wahrnehmung erwachsen, über eine geistige, mentale Dimension zu verfügen, die uns befähigt, frei über uns befinden zu können, zu werten und zu entscheiden. Diese immateriellen Phänomene erleben wir als ebenso real wie die Erscheinungen der dinglichen Welt, die uns umgibt. Sie sind uns allen gleichermaßen vertraut, weshalb wir Bezeichnungen für sie erfinden konnten, auf die wir uns einigen können. Wir sprechen von freiem Willen und wissen, was wir darunter zu verstehen haben. Wir begreifen uns als Wesen, die über Intentionalität verfügen, die fähig sind zu entscheiden, initiativ zu werden und zielbewußt in den Ablauf der Welt einzugreifen. Wir erfahren uns als freie und folglich als verantwortende, autonome Agenten. Diese Überzeugungen erwachsen aus der Erfahrung, daß wir uns unserer eigenen Empfindungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Absichten und Handlungen gewahr sein und auf diese Einfluß nehmen können. Wir erleben, daß wir diese mentalen Prozesse vor unserem inneren Auge Revue passieren lassen und diese selbst zu Objekten unserer Wahrnehmung machen können. Wir können über die vom inneren Auge geschauten Inhalte nachdenken und schließlich auf der Basis dieser Abwägungen Entscheidungen treffen. Diese Phänomene, die wir als geistige oder psychische oder seelische bezeichnen, erleben wir als Realitäten einer immateriellen
Welt, an deren Existenz unsere Selbstwahrnehmung ebensowenig Zweifel aufkommen läßt wie unsere Sinneswahrnehmungen Zweifel aufkommen lassen, daß die dingliche Welt um uns existiert. Es handelt sich bei diesen mentalen Phänomenen offenbar um Vorgänge, die wir präzise beschreiben können und als handlungsrelevant wahrnehmen. Es scheint uns, als gingen unsere Entscheidungen unseren Handlungen voraus und wirkten auf Prozesse im Gehirn ein, deren Konsequenz dann die Handlung ist.
Wir begreifen uns also als beseelte Wesen, die an einer immateriellen, geistigen Sphäre teilhaben, deren Erscheinungen nur der subjektiven Erfahrung zugänglich sind. Es sind dies Erscheinungen, die nur aus der ersten Person-Perspektive faßbar sind und die, wie viele von uns meinen, erst dadurch in die Welt gekommen sind, daß wir sind. Zum anderen aber, und hier tritt der Konflikt auf, wissen wir uns mit der gleichen Überzeugung als der materiellen Welt zugehörig. Wir rechnen uns zu den Organismen, die ihr In-der-Welt-Sein und ihr So-Sein einem kontinuierlichen evolutionären Prozeß verdanken, der sich selbst organisierend von der unbelebten Welt über zunehmend komplexere Organismen schließlich zum Homo sapiens sapiens geführt hat. Alle Komponenten dieses Prozesses erscheinen uns als Phänomene der dinglichen Welt, als Naturphänomene, die sich aus der dritten Person-Perspektive, also aus der Perspektive eines Beobachters, objektivieren und beschreiben lassen: Die Ausgangsbedingungen, die herrschten, bevor Leben in die Welt kam, die physiko-chemischen Wechselwirkungen, die reproduktionsfähige Strukturen ermöglichten, und die evolutionären Gesetzmäßigkeiten, die schließlich die Ausdifferenzierung zu Pflanzen und Tieren einleiteten. Wir begreifen diese Prozesse als der materiellen Welt zugehörig, können uns über sie verständigen und bezweifeln nicht, daß es sich um Phänomene handelt, die wir im Rahmen naturwissenschaftlicher Beschreibungssysteme fassen und erklären können.
Zu diesen, von der Position eines Beobachters aus beschreibbaren Variablen der Evolution gehört natürlich auch das Verhalten der Organismen. Auch dieses ist für den Beobachter objektivierbar und, wie sich feststellen läßt, durch die Organisation des Organismus, der das Verhalten produziert, und insbesondere durch sein Nervensystem determiniert. Das Verhalten von Organismen ist selbst Gegenstand von evolutionären Ausleseprozessen, nicht weniger als die Form eines Flügels. Tiere, deren Verhaltensrepertoire optimale Anpassung an sich verändernde Bedingungen erlaubt, haben im evolutionären Wettbewerb die besseren Chancen. Verhalten ist somit eine Variable der dinglichen Welt, in welcher sich die Evolution ereignete und damit den Selektionsmechanismen ebenso unterworfen wie alle anderen Eigenschaften von Organismen. Folglich muß sich jede Komponente des von außen beobachtbaren, meßbaren und objektivierbaren Verhaltens als Folge von Prozessen darstellen lassen, die im Rahmen naturwissenschaftlicher Beschreibungssysteme faßbar sind. Verhalten stellt sich somit als Eigenschaft dar, die einem Organismus anhaftet und wie jede andere seiner Eigenschaften durch genetische und epigenetische Faktoren festgelegt ist.
Diese, wie ich glaube, zwingende Einsicht bereitet keinerlei Schwierigkeiten, solange wir mit Verhalten nur jenes von einfach organisierten Tieren meinen. Wir haben kein Problem mit der Einsicht, daß tierisches Verhalten vollkommen determiniert ist durch das Zusammenspiel von Reizkonstellationen mit Gehirnzuständen, die ihrerseits wieder von der genetisch determinierten Organisation des jeweiligen Nervensystems und seiner individuellen Vorgeschichte abhängen. Wenn es dann doch etwas anders
kommt als erwartet, dann nehmen wir an, daß zufällige Schwankungen dafür verantwortlich sind. Die zunehmende Verfeinerung neurobiologischer Meßverfahren hat nunmehr die Möglichkeit eröffnet, auch die höheren kognitiven Leistungen komplexer Gehirne als objektivierbare Verhaltensleistungen aus der dritten Person-Perspektive darzustellen und zu analysieren. Schon jetzt zählen zu diesen mit naturwissenschaftlichen Methoden untersuchbaren Leistungen solche, die wir auch aus der ersten Person-Perspektive kennen. Darunter fallen z.B. die Fähigkeiten wahrzunehmen und zu erinnern, Aufmerksamkeit selektiv auf ganz bestimmte Reize zu lenken und von anderen abzuziehen, zwischen Reaktionsoptionen auszuwählen und zu entscheiden, reflektorische Handlungen zu unterdrücken - was mit zunehmender Differenzierung der Organismen immer wichtiger wird, den Wert von Belohnungen zu beurteilen, Bindungen zu Partnern herzustellen und diese affektiv aufzuladen, und schließlich die Fähigkeit, Emotionen zu haben, aggressiv zu sein oder friedlich, zufrieden oder frustriert. Alle diese Verhaltensmanifestationen lassen sich operationalisieren, aus der dritten Person-Perspektive heraus objektivieren und somit auf neuronale Prozesse zurückführen. Es sind dies Phänomene, die in kohärenter Weise in naturwissenschaftlichen Beschreibungssystemen erfaßt werden können; denn wenn ein Prozeß zwingende Folge eines anderen ist, dann müssen beide in einem kohärenten Beschreibungssystem darstellbar sein. Entsprechend gelingt es den Neurowissenschaften in zunehmendem Maße, selbst hochkomplexe kognitive Leistungen bestimmten neuronalen Prozessen zuzuordnen. Da diese beobachtbaren kognitiven Leistungen mit den zu Grunde liegenden neuronalen Prozessen nicht identisch sind, sich aber aus diesen ergeben, sagen wir, diese Verhaltensleistungen seien emergente Eigenschaften neuronaler Vorgänge. Damit soll ausgedrückt werden, daß die kognitiven Funktionen mit den physiko-chemischen Interaktionen in den Nervennetzen nicht gleichzusetzen sind, aber dennoch kausal erklärbar aus diesen hervorgehen.
Dieser Sichtweise steht die mit ihr völlig unvereinbare Überzeugung entgegen, daß wir an einer geistigen Dimension teilhaben, die von den Phänomenen der dinglichen Welt ontologisch verschieden ist. Wir beziehen diese Überzeugung aus unserer Selbsterfahrung und formulieren sie ausschließlich aus der ersten Person-Perspektive heraus. Weil wir diese geistige Dimension einer verschiedenen Seinswelt zuordnen, gehen wir davon aus, daß sie aus der dinglichen Welt, die in der dritten Person-Perspetive erfaßt wird, nicht ableitbar ist. Wir erfahren unsere Gedanken und unseren Willen als frei, als jedweden neuronalen Prozessen vorgängig. Dies aber ist mit den deterministischen Gesetzen inkompatibel, die in der dinglichen Welt herrschen. Wir empfinden unser Ich den körperlichen Prozessen gegenüber als frei, ihnen gewissermaßen gegenübergestellt. Wir erfahren uns als wertende, mit Intentionalität ausgestattete Wesen, die sich selbst und anderen Verantwortung zuschreiben für das, was sie tun, und wir empfinden uns in der Lage, mit unserem Gewissen in Zwiegespräche einzutreten, mit unseren kategorischen Imperativen zu argumentieren, unsere Stimmungen zu beherrschen und uns über diese Handlungsdeterminanten hinwegzusetzen. Uns erscheint unser wahrnehmendes, wertendes und entscheidendes Ich als eine geistige Entität, die sich der neuronalen Prozesse allenfalls bedient, um Informationen über die Welt zu gewinnen und Beschlüsse in Taten umzusetzen. Damit das Gewollte zur Tat wird, muß etwas im Gehirn geschehen, was das Gewollte ausführt. Es müssen Effektoren aktiviert werden und dazu bedarf es neuronaler Signale. Entsprechend müssen die Sinnessysteme eingesetzt werden, also wiederum neuronale Strukturen, um etwas
über die Welt zu erfahren. Bei all dem begleitet uns das Gefühl, daß wir es sind, die diese Prozesse kontrollieren.
Wir haben offenbar im Laufe unserer kulturellen Geschichte zwei parallele Beschreibungssysteme entwickelt, die Unvereinbares über unser Menschsein behaupten. Diese Inkompatibilität zwischen Selbst- und Außenwahrnehmung hat die Menschheit beschäftigt, seit sie begann, über sich nachzudenken. Was zunächst nur Ahnung war, wandelt sich jetzt jedoch zu einem nicht mehr verdrängbaren Problem. Verantwortlich für diese Zuspitzung zeichnen vor allem die Naturwissenschaften und in ganz besonderem Maße die Neurowissenschaften. Liefern diese doch zunehmend überzeugendere Beweise dafür, daß menschliche und tierische Gehirne sich fast nicht unterscheiden, daß ihre Entwicklung, ihr Aufbau und ihre Funktionen den gleichen Prinzipien gehorchen. Da wir, was tierische Gehirne betrifft, keinen Anlaß haben zu bezweifeln, daß alles Verhalten auf Hirnfunktionen beruht, müssen die in den naturwissenschaftlichen Beschreibungssystemen erarbeiteten Behauptungen über die materiellen Bedingtheiten von Verhalten natürlich auch auf den Menschen zutreffen.
Was bedeutet nun dieser Konflikt zwischen zwei, wie es scheint, gleichermaßen überzeugenden, gleichermaßen zutreffenden aber vollkommen inkompatiblen Menschenbildern für unser Selbstverständnis? Wie können Lösungen dieses Konfliktes aussehen und was würde folgen, falls wir solche tatsächlich anbieten können? Eine Möglichkeit ist, daß es in der Tat ontologisch verschiedene Welten gibt, eine materielle und eine immaterielle, daß der Mensch an beiden teilhat und wir uns nur nicht vorstellen können, wie die eine sich zur anderen verhält. Solche dualistischen Weltmodelle durchziehen die Geistesgeschichte des Abendlandes seit Anbeginn und Descartes hat die Unterschiede zwischen geistigen und materiellen Sphären wohl am deutlichsten herausgestellt. Aber diese Sichtweise wirft eine Reihe sehr unangenehmer Probleme auf. Eines von ihnen ist, daß dualistische Positionen mit bekannten Verfahren weder durch Nachdenken noch durch Experimentieren bewiesen oder falsifiziert werden können. Als Arbeitshypothese für Erklärungsversuche sind sie somit wenig hilfreich. Dualistische Weltsysteme können behauptet werden, aber sie sind nicht ableitbar, müssen also geglaubt werden. Diese Unangreifbarkeit vermittelt jedoch nur scheinbare Sicherheit, denn es ergeben sich eine Fülle von Folgeproblemen.
Dualistische Weltmodelle bleiben die Antwort auf die Frage schuldig, wann im Lauf der Evolution oder der Individualentwicklung das Geistige vom Materiellen Besitz ergreift und sich zu erkennen gibt. Geschieht dies bei der Verschmelzung von Ei und Samenzelle oder später während der Embryonalentwicklung oder erst bei der Geburt oder gar erst dann, wenn Menschenkinder kognitive Leistungen ausbilden, über die Tiere nicht verfügen? Dasselbe Problem ergibt sich bei der Betrachtung der Evolution. Wir nehmen für uns in Anspruch, beseelt zu sein und über eine einzigartige geistige Dimension zu verfügen. Aber warum sprechen wir dies Schimpansen ab, obgleich sie uns in so vielem gleichen? Der Versuch festzulegen, wann der Phasenübergang vom Materiellen zum Geistigen stattfand oder je neu stattfindet, trifft angesichts der Kontinuität evolutionärer und ontogenetischer Prozesse auf unüberwindbare Schwierigkeiten. Als Ausweg bliebe der Panpsychismus, die Annahme, alles sei beseelt. Aber diese Sicht führt ihrerseits zu einer Fülle von Konflikten bei dem Versuch, materiellen Erscheinungen beseelte oder mentale Qualitäten zuzuschreiben.
Ferner stellt sich das besonders unangenehme Problem der Verursachung, für das wir ebenfalls keine denkbaren Lösungen wissen. Wenn es diese immaterielle geistige Entität gibt, die von uns Besitz ergreift und uns Freiheit und Würde verleiht, wie sollte diese dann mit den materiellen Prozessen in unserem Gehirn wechselwirken? Denn beeinflussen muß sie die neuronalen Prozesse, damit das, was der Geist denkt, plant und entscheidet, auch ausgeführt wird. Wechselwirkungen mit Materiellem erfordern den Austausch von Energie. Wenn also das Immaterielle Energie aufbringen muß, um neuronale Vorgänge zu beeinflussen, dann muß es über Energie verfügen. Besitzt es aber Energie, dann kann es nicht immateriell sein und muß den Naturgesetzen unterworfen sein. Umgekehrt stellt sich das Problem, wie sich das Immaterielle über die Welt draußen informiert. Wenn wir die Augen schließen, sind wir blind und auch unser geistiges Auge scheint keine Möglichkeiten zu haben, sich von den Ereignissen draußen ein Bild zu machen. Offenbar muß sich auch der Geist der Augen und der nachgeschalteten neuronalen Mechanismen bedienen, um die Welt wahrzunehmen. Wie also werden die Sinnessignale, die Energie tragenden elektrischen Entladungen der Nervenzellen in die Sprache des immateriellen Geistes übersetzt? Auch dieses Problem ist in keinem der uns zugänglichen Beschreibungssysteme lösbar. Falls die Prämisse gilt, daß Weltdeutungen widerspruchsfrei sein müssen, um zutreffend zu sein, bleiben drei Möglichkeiten: Unsere Selbsterfahrung trügt und wir sind nicht wie wir uns wähnen, oder unsere naturwissenschaftlichen Weltbeschreibungen sind unvollständig oder unsere kognitiven Fähigkeiten sind zu begrenzt, um hinter dem scheinbaren Widerspruch das Einende zu erfahren.
Für alle drei Lesarten lassen sich gute Argumente ins Feld führen. Damit dies nicht in ein fatalistisches, alles relativierendes Ignoramus mündet und jede weitere Überlegung gegenstandslos macht, sollen zumindest jene Beschreibungen und Erklärungen als gegeben und zutreffend angesehen werden, die sich aus der dritten Person-Perspektive als konsensfähig, widerspruchsfrei und gemäß der Kriterien von Wiederhol- und Voraussagbarkeit als beweisbar erwiesen haben. Hierzu gehört die Erkenntnis, daß dieses Wissen auf unseren Nachforschungen beruht. Wir haben als erkennende Subjekte widersprüchliche Beschreibungen von uns erzeugt, sind uns dieser Widersprüche bewußt und versuchen nun mit den gleichen Werkzeugen, die den Widerspruch in die Welt brachten, diesen wieder aufzulösen. Eine kritische Betrachtung der Qualität dieser Werkzeuge tut deshalb Not.
Wir können nur erkennen, was wir beobachten, denkend ordnen und uns vorstellen können. Was für unsere kognitiven Systeme unfaßbar ist, existiert nicht für uns. Die Grenzen des Wißbaren werden demnach durch die Beschränkungen der kognitiven Fähigkeiten unseres Gehirns gezogen. Zu fragen ist also, wie es mit der Verläßlichkeit und den Begrenzungen dieses kognitiven Apparates bestellt ist. Und diese Frage fällt in den Zuständigkeitsbereich der Neurobiologie. Unsere kognitiven Funktionen beruhen auf neuronalen Mechanismen und diese sind ein Produkt der Evolution. Nun deutet wenig darauf hin, daß die evolutionären Prozesse daraufhin ausgelegt sind, kognitive Systeme hervorzubringen, welche die Wirklichkeit so vollständig und objektiv wie nur irgend möglich zu erfassen oder - falls die Welt eine entsprechende Schichtenstruktur aufweisen sollte - gar das Wahre hinter den Phänomenen zu erkennen vermögen. Im Wettbewerb um Überleben und Reproduktion kam es auf anderes an. Wichtig war und ist, aus der Fülle verfügbarer Information nur jene aufzunehmen und zu verarbeiten, die für die Bedürfnisse des jeweiligen Organismus bedeutsam sind. Wie die hohe Selektivität und
Spezialisierung unserer Sinnessysteme ausweist, betrifft dies nur einen winzigen Ausschnitt der uns inzwischen bekannt gewordenen Welt. Organismen, die sich in andere ökologische Nischen hineinentwickelten, interessieren sich notgedrungen für andere Eigenschaften der Welt und haben ihre Sinnessysteme entsprechend angepaßt. Zusätzlich zu dieser Optimierung der Signalaufnahme kam es darauf an, die verfügbare Information möglichst schnell in zweckmäßige Verhaltensreaktionen umzusetzen. Umfassende Weltbeschreibungen sind dem kaum dienlich. Es erscheint deshalb wenig wahrscheinlich, daß die Evolution kognitive Mechanismen hervorgebracht hat, die solches zu leisten vermögen. Eine Fülle von Beispielen belegen, daß sich unsere kognitiven Systeme die Welt in der Tat auf sehr pragmatische und idiosynkratische Weise zurechtlegen. Obgleich unsere Sinnessysteme nur diskontinuierliche Ausschnitte aus dem physiko-chemischen Kontinuum der Welt aufnehmen, erscheint uns die Welt dennoch als kohärent. Der Grund ist, daß wir Fehlendes ergänzen und über Ungereimtheiten hinwegsehen, um ein schlüssiges Gesamtbild zu erhalten. Unsere Sinnessysteme sind zwar hervorragend angepaßt, um aus wenigen Daten sehr schnell die verhaltensrelevanten Bedingungen zu erfassen, aber sie legen dabei keinen Wert auf Vollständigkeit und Objektivität. Sie bilden nicht getreu ab, sondern rekonstruieren und bedienen sich dabei des im Gehirn gespeicherten Vorwissens. Dieses speist sich aus zwei Quellen: Zum einen ist es das im Laufe der Evolution erworbene Wissen über die Welt, das vom Genom verwaltet wird und sich in Architektur und Arbeitsweise von Gehirnen ausdrückt. Zum anderen ist es das zu Lebzeiten durch Erfahrung erworbene Wissen. Gehirne nutzen dieses Vorwissen, um Sinnessignale zu interpretieren und in größere Zusammenhänge einzuordnen. Unsere als objektiv empfundenen Wahrnehmungen sind das Ergebnis solcher konstruktiver Vorgänge. Diese wissensbasierten Rekonstruktionen können dazu beitragen, die Unvollkommenheit der Sinnessysteme teilweise zu kompensieren. Vorwissen kann genutzt werden, um Lücken zu schließen. Gleiches sollte man von Denkprozessen erwarten, vermittels derer wir Widersprüche aufdecken und tiefere Zusammenhänge erkennen können. Der Erfolg wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse belegt die Wirksamkeit der kombinierten Anwendung unserer Wahrnehmungs- und Denkwerkzeuge. Interessant ist jedoch, daß diese Erkenntnisstrategie oft zu Erklärungen führt, die unanschaulich und gelegentlich sogar für die Intuition unplausibel sind. Wir lassen uns jedoch überzeugen, daß sie zutreffen, wenn sich aus ihnen gültige Voraussagen ableiten oder auf ihrer Grundlage funktionierende Apparate bauen lassen. Aber auch bei diesen rationalen Erklärungen handelt es sich natürlich um Konstrukte unseres Gehirns, denn auch Denkprozesse beruhen auf neuronalen Vorgängen. Sie gehen auf Leistungen der Großhirnrinde zurück, genauso wie die Wahrnehmung. Deshalb gibt es keinen Grund anzunehmen, Denken sei verläßlicher oder objektiver als Wahrnehmen. Je mehr uns die Neurobiologie über die materielle Bedingtheit unserer kognitiven Leistungen aufklärt, um so deutlicher wird, daß wir vermutlich vieles nicht wissen können und daß wir die Grenzen nicht kennen, jenseits derer unsere Kognition versagt.
Diese Vorbehalte stellen alle abschließenden Behauptungen in Frage, denn dem Argument ist schwer zu begegnen, daß jedwede Erkenntnis vorläufigen Charakter hat und sich durch Einbettung in neue Bezüge wesentlich verändern kann. Dennoch können wir nicht umhin zu versuchen, das jeweils Wißbare so zu ordnen, daß ein kohärentes Bild entsteht. Andernfalls bleibt Erkenntnis bedeutungslos.
Evolution als kontinuierlicher Prozeß
Wenden wir uns also trotz dieser epistemologischen Bedenken wieder der eingangs formulierten Frage zu, ob und wie die aus der ersten Person-Perspektive erfahrenen Phänomene als Folge der Evolution komplexer Gehirne verstanden werden können. Zu prüfen wäre also zunächst, ob uns die Evolution irgendwelche Anhaltspunkte für Diskontinuitäten oder Entwicklungssprünge gibt, die uns den Unterschied zwischen Tier und Mensch oder das In-Die-Welt-Kommen mentaler Phänomene erklären könnten. Spätestens seit Abschluß der Sequenzierung des humanen Genoms steht fest, daß sich die molekularen Bausteine von Nervenzellen im Laufe der Evolution kaum verändert haben. Die Nervenzellen von Schnecken funktionieren nach den gleichen Prinzipien wie die Nervenzellen der Großhirnrinde des Menschen. Dies gilt für die molekularen Bestandteile ebenso wie für den anatomischen Aufbau, für die Mechanismen der Signaltransduktion innerhalb der Zellen ebenso wie für die Kommunikation zwischen Nervenzellen. Ein vergleichbarer Konservatismus kennzeichnet auch die strukturelle Organisation ganzer Gehirne. Obgleich die Evolution im Reich der Wirbeltiere eine beträchtliche Artenvielfalt hervorbrachte, ist die Hirnentwicklung von erstaunlicher Monotonie gekennzeichnet. Die Gehirne werden größer, aber an den Grundstrukturen ändert sich wenig. Es finden sich immer die gleichen Zentren und diese weisen immer die gleiche Feinstruktur auf. Die Großhirnrinde einer Ratte ist von der eines Menschen auch unter dem Mikroskop kaum zu unterscheiden. Der einzig wirklich auffällige Unterschied zwischen den Gehirnen verschiedener Säugetierspezies ist die unterschiedliche Ausprägung der Großhirnrinde. In Relation zur Körpergröße haben wir, hat Homo sapiens, am meisten davon. Das führt zu der sehr unangenehmen Schlußfolgerung, daß offenbar alles das, was uns ausmacht und uns von den Tieren unterscheidet und damit auch alles das, was unsere kulturelle Evolution ermöglichte, offenbar auf der quantitativen Vermehrung einer bestimmten Hirnstruktur beruht. Diese, so muß gefolgert werden, vermag offenbar Verarbeitungsprozesse zu realisieren, deren schiere Vermehrung geeignet ist, die mentalen Eigenschaften hervorzubringen, die uns von den Tieren unterscheiden, also all die geistigen Attribute, die sich unserer Selbstwahrnehmung erschließen.
Wie also könnte die quantitative Vermehrung eines bestimmten Hirngewebes zur Emergenz dieser neuen mentalen Qualitäten geführt haben und hat es vielleicht mit der Großhirnrinde etwas Besonders auf sich? Die Großhirnrinde läßt sich in viele verschiedene Areale einteilen, von denen jedes eine ganz bestimmte Aufgabe erfüllt. Welche Aufgaben dies jeweils sind, wird durch die Herkunft der Signale festgelegt, die einem bestimmten Großhirnrindenbereich zugespielt werden. So erhalten Areale im Hinterhauptlappen ihre Eingangssignale hauptsächlich vom Auge, die im Parietallappen vom Körper selbst und die im Temporallappen vom Gehör. Andere Areale wiederum beschäftigen sich vorwiegend mit Signalen, die bereits von anderen Hirnrindenregionen vorverarbeitet wurden. So finden sich im Frontalhirn Rindenareale, die für die Einbindung des Organismus in den Fluß der Zeit verantwortlich sind. Hier werden Kurzzeitspeichervorgänge realisiert, die es möglich machen, sich gewahr zu werden, daß es ein Vorher, ein Jetzt und ein Nachher gibt. Ebenfalls im Frontalhirn liegen die stammesgeschichtlich rezenten Areale, die sogenannten orbito-frontalen Areale, die beim Menschen eine besondere Ausprägung erfahren und für die Einbindung des Individuums in soziale Gefüge verantwortlich sind. Wenn es dort zu Störungen kommt, dann dedifferenziert die
Persönlichkeit, die Menschen verlieren ihre moralischen Prinzipien und werden asozial.
Das Faszinierende ist, daß diese verschiedenen Bereiche der Großhirnrinde nahezu die gleiche Feinstruktur aufweisen. Dies impliziert, daß sie nach den gleichen Prinzipien verschaltet sind und somit die gleichen Verarbeitungsalgorithmen anwenden. Da diese offenbar zur Lösung sehr unterschiedlicher Verarbeitungsprobleme eingesetzt werden können, muß es sich um sehr mächtige Algorithmen handeln.
Wenn sich also die Verarbeitungsstrategien in den verschiedenen Hirnrindenarealen kaum unterscheiden, so müssen neu hinzugekommene Funktionen auf der spezifischen Vernetzung der Areale beruhen. In einfachen Gehirnen gelangt Information auf relativ kurzem Weg von den primären sensorischen Arealen, die sich mit der Verarbeitung der Signale von Sinnesorganen befassen, über Querverbindungen zu den motorischen Hirnrindenarealen, in welchen Bewegungsabläufe und Reaktionen auf Sinnesreize programmiert werden. Einfache Gehirne sind deshalb kaum in der Lage, über die in ihnen ablaufenden Prozesse nachzudenken. Bei den höher organisierten Tieren, und das gilt bereits für Ratten, Katzen und Hunde, aber natürlich in besonderem Maße für Primaten, kommen dann weitere Hirnrindenareale hinzu, die ihre Signale nicht mehr von den Sinnesorganen, sondern indirekt über die bereits vorhandenen, stammesgeschichtlich älteren primären sensorischen Hirnrindenareale beziehen. Diese neuen Areale verarbeiten demnach das Ergebnis von hirnrindenspezifischen Verarbeitungsprozessen und sie tun dies offenbar auf die gleiche Weise, wie die schon vorhandenen Areale Signale aus der Umwelt verarbeiten. Zudem kommunizieren diese neu hinzugekommenen Areale sehr intensiv untereinander. Eine Nervenzelle in der Großhirnrinde empfängt etwa 10.000 bis 20.000 verschiedene Eingangsverbindungen und die meisten davon kommen von anderen Großhirnrindenzellen. Die Hirnrinde beschäftigt sich also vorwiegend mit sich selbst. In hochorganisierten Gehirnen machen die Eingänge von den Sinnessystemen und die Ausgänge zu den Effektoren einen verschwindend kleinen Prozentsatz der Verbindungen aus.
Metarepräsentationen und Bewusstsein
Zumindest intuitiv wird nachvollziehbar, wie diese geschichtete Architektur über die wiederholte Anwendung immer gleicher kognitiver Operationen zum Aufbau von Metarepräsentationen innerer Zustände führen könnte. Wenn die Ergebnisse primärer kognitiver Prozesse erneut einer Analyse unterzogen werden, kommt dies der Reflexion eigener Wahrnehmungsprozesse gleich. Zieht man in Betracht, daß die Ergebnisse dieser kognitiven Operationen höherer Ordnung ihrerseits wiederum miteinander verglichen und verrechnet werden und daß die Ergebnisse dieser transmodalen Vergleiche wiederum in neu hinzugekommenen Hirnrindenarealen eine abstrakte Kodierung erfahren können, dann läßt sich erahnen, wie phänomenales Bewußtsein, das Sich-Gewahrsein von Wahrnehmungen und Empfindungen, entstanden sein könnte. Es ist dies eine kognitive Fähigkeit, die wir auch Tieren mit höher organisierten Gehirnen zusprechen. Wir bezweifeln nicht, daß sich höhere Säugetiere und insbesondere alle Primaten ihrer Empfindungen gewahr sein können und daß dieses Gewahrsein handlungsrelevant ist. Der Grund für diese Annahme ist, daß die Gehirne der höher organisierten Säugetiere über die gleichen
Mechanismen zur Steuerung von Aufmerksamkeit und zur Speicherung von Wahrnehmungsinhalten im episodischen Gedächtnis verfügen wie der Mensch. Für den Menschen gilt, daß Inhalte dann bewußt werden, wenn sie mit selektiver Aufmerksamkeit bedacht werden. Nur dann können sie im episodischen Gedächtnis gespeichert und später wieder einer bewußten Reflexion unterzogen werden. Somit ist wahrscheinlich, daß tierische Gehirne, die über die entsprechenden Selektions- und Speichermechanismen verfügen, phänomenales Bewußtsein aufweisen. Demnach wäre phänomenales Bewußtsein eine operationalisierbare kognitive Leistung, die sich aus der dritten Person-Perspektive heraus analysieren lassen sollte. Nachvollziehbar könnte also sein, wie durch Iteration kognitiver Operationen und reflexive Anwendung auf sich selbst Metarepresentationen eigener Zustände gebildet werden können und somit die eigene Kognition zum Gegenstand von Kognition werden kann.
Das Bindungsproblem
Dies beantwortet aber nicht die Frage, "wer" sich letztlich diese Metaprozesse "anschaut", wer die alles koordinierende Instanz sein könnte, die wir mit dem "Ich" gleichsetzen. Die Intuition hält hier eine einfache Antwort bereit. Sie legt uns nahe, daß es irgendwo im Gehirn ein Zentrum geben müsse, in dem alle Verarbeitungsergebnisse zusammenkommen, um einer kohärenten Interpretation unterworfen zu werden. Dort wäre der Ort, wo entschieden und geplant wird und dort müßte sich auch das "Ich" konstituieren. Nun wissen wir aber heute, daß sich unsere Intuition in diesem Punkt auf dramatische Weise irrt. Schaltdiagramme der Vernetzung der Hirnrindenareale lassen jeden Hinweis auf einen hierarchischen Aufbau mit einem Konvergenzzentrum vermissen. Es gibt keine Kommandozentrale, in der entschieden werden könnte, in der das "Ich" sich konstituieren könnte. Hochentwickelte Wirbeltiergehirne stellen sich vielmehr als hochvernetzte, distributiv organisierte Systeme dar, in denen eine riesige Zahl von Operationen gleichzeitig ablaufen. Diese parallelen Prozesse organisieren sich, ohne eines Konvergenzzentrums zu bedürfen, und führen in ihrer Gesamtheit zu kohärenten Wahrnehmungen und koordiniertem Verhalten. Das wirft die schwierige Frage auf, wie die vielen, in den verschiedenen Hirnrindenarealen gleichzeitig ablaufenden Verarbeitungsprozesse so koordiniert werden können, daß kohärente Interpretationen der vielfältigen Sinnessignale möglich werden, daß Entscheidungen getroffen und motorische Reaktionen koordiniert werden können. Und schließlich stellt sich die Frage, wie sich ein so dezentral organisiertes System seiner selbst bewußt werden kann. Antworten auf diese Fragen erfordern Lösungen für das sogenannte Bindungsproblem. Es gilt, die Selbstorganisationsprozesse zu verstehen, die aus Teilprozessen kohärente Zustände höherer Ordnung entstehen lassen.
Aus Platzgründen sei hier darauf verzichtet, auf die verschiedenen Vorschläge zur Lösung des Bindungsproblems einzugehen. Pars pro toto sei hier die Hypothese diskutiert, die wir in Frankfurt verfolgen. Sie geht davon aus, daß die zur Bindung verteilter Aktivitäten erforderliche Koordination über die Definition präziser zeitlicher Relationen verwirklicht wird. Der Vorschlag ist, daß das Gehirn die zeitliche Dimension als Kodierungsraum nutzt und präzise zeitliche Synchronisation als Code für die Zusammengehörigkeit neuronaler Antworten verwendet. Das neuronale Korrelat eines Wahrnehmungsinhaltes oder einer Entscheidung oder eines
vorformulierten Satzes wäre dann ein komplexes raum-zeitliches Muster synchron aktiver Nervenzellen, das sich über hinreichend lange Zeit stabilisiert, um verhaltensrelevant zu sein oder sogar bewußt zu werden.
Francisco Varela, der letztes Jahr verstorben ist und Nicht-Biologen vor allem durch seine Autopoesis-Konzepte bekannt sein dürfte, führte Experimente durch, um die Synchronisationshypothese am Menschen zu überprüfen. Er bat Versuchspersonen, Schwarz-Weiß-Bilder anzuschauen, von denen einige als Profilansichten von Gesichtern identifizierbar waren. Während die Versuchspersonen versuchten, in diesen Bildern Gestalten zu erkennen, wurden über ein dichtes Netz von Elektroden Hirnströme gemessen. Die Versuchspersonen mußten ferner durch Drücken einer Taste angeben, ob sie ein Gesicht erkannt hatten. Jedesmal, wenn dies der Fall war, traten über den Hirnrindenarealen, die sich mit dem Sehen befassen, kurzfristig hochsynchrone Wellen im Bereich von etwa 40 Hertz auf. Dies war nicht der Fall, wenn die Versuchspersonen die Muster nicht identifizieren konnten. Diese hochsynchronen Zustände dauerten nur etwa 200tausendstel Sekunden, lösten sich dann auf und wichen einem neuen, ebenfalls synchronen Schwingungsmuster, das jetzt aber von motorischen Hirnrindenarealen ausging und zeitlich mit der Vorbereitung der motorischen Antwort zusammenfiel. Der hochsynchrone Zustand über den Sehrindenarealen stellt sich also nur dann ein, wenn Musterelemente zu einer bewußt wahrnehmbaren Gestalt zusammengebunden werden können. Dies legt nahe, daß das nicht weiter reduzierbare Korrelat eines Wahrnehmungsinhaltes ein hochkoordinierter dynamischer Zustand ist, der sich dadurch auszeichnet, daß die Neuronen, die für die Repräsentation des jeweiligen Inhalts rekrutiert werden müssen, ihre Entladungen über kurze Zeitspannen synchronisieren. Demnach wäre die Repräsentation von Verarbeitungsergebnissen, gleich, ob es sich um Wahrnehmungsinhalte oder motorische Programme, um Gedanken oder Entscheidungen handelt, ein dynamischer Zustand, der durch die koordinierte Aktivität einer sehr großen Zahl räumlich verteilter Nervenzellen charakterisiert ist. Dies müßte dann auch für die Struktur von Metarepräsentationen gelten, also für die Repräsentation der Inhalte der Selbstwahrnehmung. Die Frage, wie diese dynamischen Zustände in Verhaltensreaktionen umgesetzt werden, läßt sich im Rahmen neurobiologischer Beschreibungssysteme zwar noch nicht befriedigend, aber wohl im Prinzip klären. Weitaus problematischer ist die Frage, wie sich auf der Basis neuronaler Erregungsmuster die subjektiven Konnotationen unserer Wahrnehmungen und Empfindungen konstituieren. Diese Frage führt uns gegenwärtig noch an die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens, da sich in ihr die noch unvereinbaren Beschreibungen begegnen, die wir aus den unterschiedlichen Perspektiven der ersten und der dritten Person gewonnen haben.
Eng damit verbunden ist die nicht weniger problematische Frage, wie ein solchermaßen distributiv organisiertes kognitives System dazu kommt, sich ein Bild von sich selbst zu machen und sich als autonomes, frei entscheidendes Agens zu empfinden. Da es keinen ersichtlichen Grund gegen die Annahme gibt, daß auch diese Selbsterfahrungsprozesse auf neuronalen Vorgängen beruhen, läßt sich die Suche nach Antworten auf diese Frage nicht weiter aufschieben. Auch wenn sich, was wahrscheinlich ist, derzeit keine konsensfähigen Interpretationen anbieten lassen, scheint es dennoch an der Zeit, Hypothesen zu formulieren, die sich auf das derzeit Gewußte stützen.
Selbstmodell als soziales Konstrukt
Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, die Bedingungen zu identifizieren, die es uns ermöglichen, uns als selbstbestimmende, frei entscheidende Wesen zu erfahren. Eine zentrale Rolle scheint hierbei dem Faktum zuzukommen, daß uns bei weitem nicht alle Vorgänge in unserem Gehirn bewußt werden. Vieles spricht dafür, daß nur neuronale Erregungsmuster der Hirnrinde zu bewußten Empfindungen und Wahrnehmungen führen, und auch nur dann, wenn sie ein kritisches Maß an Kohärenz, an Ordnung, an Synchronisation aufweisen und diesen Zustand über hinreichend lange Zeit aufrecht erhalten können. Ergebnisse aus Versuchen, die dem geschilderten Experiment von Varela ähneln, stützen diese Vermutung. Dies impliziert, daß alle vorbereitenden Prozesse - und schon diese müssen bereits auf sehr komplexen Selbstorganisationsvorgängen beruhen - nicht ins Bewußtsein gelangen. Es scheinen also nur solche Erregungsmuster bewußt zu werden, die zumindest Teillösungen repräsentieren. Manche der vom Gehirn ausgewerteten Signale haben jedoch prinzipiell keinen Zugang zum Bewußtsein. Wir haben zum Beispiel keinen bewußten Zugriff zu Informationen über unseren Blutdruck oder das Niveau des Blutzuckerspiegels, obgleich diese Variablen sehr sorgfältig gemessen, vom Gehirn ausgewertet und in Regulationsprozesse umgesetzt werden. Der wahrscheinliche Grund hierfür ist, daß diese Verarbeitungsprozesse ohne Beteiligung der Großhirnrinde ablaufen. Aber auch von den Signalen, die von der Großhirnrinde verarbeitet werden und auf die das Bewußtsein im Prinzip Zugriff hat, wird jeweils nur ein kleiner Teil bewußt. Vom kontinuierlichen Strom der Sinnessignale, die im Gehirn verarbeitet und zur Verhaltenssteuerung genutzt werden, ist uns immer nur ein kleiner Ausschnitt bewußt. Nur die Aspekte, denen wir Aufmerksamkeit schenken, werden uns auch bewußt und nur diese können wir im deklarativen Gedächtnis abspeichern, und nur über diese können wir später berichten. Natürlich hinterlassen auch die unbewußten Verarbeitungsprozesse Gedächtnisspuren und beeinflussen zukünftiges Handeln. Aber wir werden uns dieser Handlungsdeterminanten nicht bewußt und können sie deshalb nicht als Begründungen für unser Tun anführen.
Eine weitere Voraussetzung für die Konstitution eines Selbst, das sich frei wähnt, so mein Vorschlag, ist die soziale Interaktion. Mir scheint unser Selbstmodell wesentlich dadurch geprägt, daß wir uns in den kognitiven Funktionen, in der Wahrnehmung des je anderen spiegeln können, daß wir in Dialoge eintreten können des Formats "Ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß" oder "Ich weiß, daß du fühlst wie ich mich empfinde" usw. Solche iterativen Spiegelungsprozesse könnten die Erfahrung vermitteln, ein autonomer Agent zu sein, der frei über sich verfügen kann. Um in solche Dialoge eintreten zu können, müssen jedoch zwei Bedingungen erfüllt sein. Es sind dies kognitive Funktionen, über die nur menschliche Gehirne verfügen. Zum einen bedarf es der Fähigkeit, eine Theorie des Geistes aufzubauen. Dies bezeichnet die Möglichkeit, sich vorzustellen, was im Anderen vorgeht, wenn dieser sich in einer bestimmten Situation befindet. Mit Ausnahme der großen Menschenaffen fehlt Tieren diese Fähigkeit. Lediglich bei Schimpansen wurden bislang Ansätze dafür gefunden. Der Grund ist, daß für diese Leistung Hirnstrukturen erforderlich sind, die erst beim Menschen ihre volle Ausprägung erfahren. Diese evolutionsgeschichtlich jungen Strukturen reifen erst im Laufe der ersten Lebensjahre aus, weshalb auch kleine Kinder keine Theorie des Geistes aufbauen können.
Ein Beispiel soll verdeutlichen, wozu eine Theorie des Geistes befähigt. Man verstecke einen Gegenstand vor den Augen von Beobachtern, schicke dann einen
von ihnen vor die Tür, wechsle jetzt das Versteck vor aller Augen, und frage die Beobachter, wo der Hinausgeschickte suchen wird, wenn er hereingerufen. Beobachter, die über eine Theorie des Geistes verfügen, werden sagen, der Hereingerufene wird am ursprünglichen Versteck suchen, während Beobachter ohne dieses Vermögen vermuten werden, der Hereingerufene werde an dem Ort suchen, an dem sich der Gegenstand tatsächlich befindet.
Die zweite Funktion, über die dialogfähige Gehirne verfügen müssen, ist sprachliche Kommunikation. Die Gehirne müssen in der Lage sein, abstrakte Relationen symbolisch zu kodieren und syntaktisch zu verknüpfen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, können sich Dialoge der eben skizzierten Art zwischen Gehirnen entwickeln. Gehirne können sich dann in der Wahrnehmung des Gegenüber spiegeln, und ich schlage vor, daß diese Spiegelung zur Entwicklung eines Selbstmodells führt, in dem wir uns als freie, selbstbestimmte Wesen erfahren. Wenn es sich aber bei dieser Erfahrung um ein Phänomen handelt, das nur durch soziale Interaktion in die Welt tritt, dann haben die Inhalte dieser Erfahrung einen anderen ontologischen Status als die Inhalte der Wahrnehmung der dinglichen Welt. Erstere hätten dann den Status von sozialen Realitäten, von kulturellen Konstrukten und Zuschreibungen, die ihre Existenz zwischenmenschlichen Interaktionen verdanken.
Frühkindliches Lernen und Vergessen
Wie aber kommen wir nun zu der unerschütterlichen Überzeugung, daß unser Ich freie Entscheidungen treffen und über Prozesse in unserem Gehirn verfügen kann? Eine erste und vermutlich entscheidende Erfahrung mit der Zuschreibung von Autonomie und Freiheit machen wir schon als Kleinkinder. Eltern bedeuten den Kleinen fortwährend, sie sollten dies tun und jenes lassen, weil andernfalls diese oder jene Konsequenzen einträten. Diese Verweise und die mit ihnen verbundenen Sanktionen erzwingen den Schluß, man könne auch anders und müsse nur wollen. Wir erfahren also schon sehr früh eine Behandlung, die sich durch die Annahme rechtfertigt, wir seien frei in unseren Entscheidungen - eine Annahme, die sich über Erziehung verläßlich von Generation zu Generation tradiert. Wir machen uns also vermutlich eine im Laufe unserer Kulturgeschichte entwickelte Zuschreibung zu eigen, internalisieren sie und verfahren nach ihr. Möglich ist dies, weil wir bislang auf keine direkt erfahrbaren Widersprüche gestoßen sind. Wenn die Prämisse gilt, daß neuronale Prozesse erst dann bewußt werden können, wenn sie sich Lösungen nähern, dann bleibt die Erfahrung, frei zu sein, widerspruchsfrei, weil wir uns der Aktivitäten nicht gewahr werden, welche die Entscheidungen vorbereiten. Die Strebungen und Motive, die uns letztlich dazu gebracht haben, etwas Bestimmtes zu tun, bleiben uns verborgen. Wir nehmen nur das Ergebnis wahr, und weil uns nur dies bewußt ist, den Handlungen in der Regel vorausgeht und mitunter eine ebenfalls bewußt werdende Änderung erfahren kann, ergibt sich im Erleben kein Widerspruch. Will uns alle vorbereitenden, "vorbewußten" Vorgänge in unserem Gehirn verborgen bleiben, erscheint uns das, was im Bewußtsein aufscheint, als nicht-verursacht. Da aber unsere Erfahrungen lehren, daß nichts ohne Ursache ist, bleibt uns als Agent, der unseren bewußt gewordenen Entscheidungen vorangeht, nur unser Wollen, und diesem billigen wir inkonsequenterweise zu, daß es letztinstanzlich und unverursacht, also frei ist.
Sollte diese Interpretation zutreffen und unsere Erfahrung, frei zu sein, auf kulturbedingten Zuschreibungen beruhen, dann stellt sich die Frage, warum diese Erfahrung soviel unerschütterlicher ist als die Erfahrung mit anderen sozialen Realitäten. Wenn diese Überzeugung lediglich auf frühkindlichem Lernen beruht, also auf der Wahrnehmung von Zuschreibungen, die sich von anderem, das wir durch Erziehung über uns lernen, nicht unterscheidet, warum fühlt sich die Erfahrung, frei zu sein, so anders an als die anderen sozialen Realitäten, als die Wertesysteme, zum Beispiel, die ebenfalls über soziales Lernen in unserem Gewissen verankert werden? Ein Grund hierfür könnte sein, daß wir uns an den Lernprozeß, über den Wertesysteme vermittelt werden, zumindest teilweise erinnern können, da uns dieser während der gesamten Kindheit begleitet. Die Dialoge hingegen, die uns auf uns selbst verweisen und zur Ich-Konstitution beitragen, setzen sehr früh ein und behalten ihre Inhalte unverändert bei. Diese Dialoge beginnen in einer Entwicklungsphase, in der die Kleinkinder noch kaum über deklaratives Gedächtnis verfügen, also noch nicht in der Lage sind, den Lernprozeß selbst zu erinnern. Sie lernen, machen sich das Gelernte zu eigen, können aber nicht angeben, woher sie wissen, was sie wissen. Man bezeichnet diese Unfähigkeit, den Kontext bewußt zu erinnern, als frühkindliche Amnesie. Kleine Kinder lernen viel und schnell und wenden das Erlernte an, aber wenn sie angeben sollen, woher sie etwas Bestimmtes wissen, dann bleiben sie die zutreffende Antwort meist schuldig. Für die Kleinen erscheint das, was sie wissen, als nicht verursacht, als immer schon gewußt. Und dieses könnte der Grund dafür sein, daß uns später, wenn wir beginnen, über uns nachzudenken, die Inhalte dieses frühen Lernens als nicht verursacht und somit als absolut erscheinen. In der fehlenden Erinnerung an frühe soziale Lernprozesse könnte somit die Ursache liegen für die eigentümliche, transzendente Komponente unseres Selbstmodells, die wir mit unserem Ich verbinden, dieser allen materiellen Prozessen vorausgehenden und ihnen gegenübergestellten Konstruktion.
Freie und unfreie Entscheidungen
Bemerkenswert ist nun, daß wir trotz aller Überzeugung, frei zu sein, in der Selbstbewertung und im Urteil über andere zwischen freien und unfreien Akten unterscheiden. Für erstere sind wir bereit, Verantwortung zu übernehmen, für letztere fordern wir Nachsicht und machen mildernde Umstände geltend. Aus neurobiologischer Sicht ist diese Unterscheidung jedoch fragwürdig, beruht doch der Unterschied zwischen diesen beiden Beurteilungslagen nur auf dem verschiedenen Grad der Bewußtheit der Motive, die zu Entscheidungen und Handlungen geführt haben. Wir gehen offenbar davon aus, daß Motive, die wir ins Bewußtsein heben und einer bewußten Deliberation unterziehen können, dem freien Willen unterworfen sind, während Motive, die nicht bewußtseinsfähig sind, offenbar nicht dem freien Willen unterliegen. Im Bezug auf die zu Grunde liegenden neuronalen Prozesse erscheint diese Dichotomie wenig plausibel. Denn in beiden Fällen werden die Entscheidungen und Handlungen durch neuronale Prozesse vorbereitet, nur daß in einem Fall der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf den Motiven liegt und diese ins Bewußtsein hebt und im anderen nicht. Aber der Abwägungsprozeß selbst beruht natürlich in beiden Fällen auf neuronalen Prozessen und folgt somit in beiden Szenarien deterministischen Naturgesetzen. Zutreffend ist lediglich, daß die Variablen, auf denen der Abwägungsprozeß beruht, im Falle bewußter Deliberation abstrakterer Natur sind und vermutlich auch nach komplexeren Regeln miteinander verknüpft werden können als bei Entscheidungen, die sich vorwiegend aus unbewußten
Motiven herleiten. Der Grund ist, daß Variablen, sobald sie ins Bewußtsein gelangen, sprachlich erfaßt, symbolisch kodiert und syntaktisch verknüpft werden können. Wegen der begrenzten Kapazität des Bewußtseins könnte es jedoch sein, daß die Zahl der Variablen, die bewußt überschaut und gegeneinander gesetzt werden können, geringer ist als die Zahl der Variablen, die im Unterbewußten miteinander verrechnet werden können.
Eine weitere Beschränkung
Bevor ich auf die Konsequenzen eingehe, die das bisher Ausgeführte für unser Menschenbild hat, möchte ich noch auf eine weitere Komplikation verweisen, die unsere Handlungs- und Urteilsoptionen einschränkt. Auch diese Komplikation verdanken wir Einsichten, die naturwissenschaftliche Neugier befördert hat. Es wird uns immer deutlicher, daß die Dynamik der lebensweltlichen Prozesse, in die wir eingebunden sind, nichtlineare Eigenschaften besitzt. Es sind dies Eigenschaften, die nahezu alle Systeme aufweisen, die aus zahlreichen, miteinander vernetzten und selbst aktiven Komponenten bestehen. Dies gilt für soziale Systeme ebenso wie für Wirtschaftssysteme und ökologische Systeme. Ein Charakteristikum nicht-linearer Dynamik ist ihre begrenzte Prognostizierbarkeit. Natürlich gilt auch in diesen Systemen das Kausalgesetz, das heißt, der jeweils nächste Entwicklungsschritt ist durch den status quo ante determiniert. Dennoch lassen sich die Entwicklungstrajektorien nicht über längere Zeiträume hinweg vorausbestimmen, da nicht-lineare Systeme vielfältig verzweigten Pfaden folgen und Richtungswechsel durch kleine, im Grenzfall auch zufällige Systemschwankungen bedingt sein können. Aus dem gleichen Grund sind solche nicht-linearen Selbstorganisationsprozesse kaum steuerbar. Eingriffe führen zwar zu Veränderungen von Gleichgewichten und Trajektorien, aber es gibt keine Gewißheit, daß diese längerfristig das Gewollte bewirken. Dies ist der banale Grund, warum Fünfjahrespläne nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen und dirigistische Systeme immer aufs Neue scheitern.
Eingeständnisse
Diese von den Naturwissenschaften vermittelten Einsichten in unsere Bedingungen können unser Selbstverständnis und unsere Beurteilung von Handlungsoptionen nicht unberührt lassen. Wenn wir diese Einsichten nicht weiter verdrängen, sondern sie uns zu eigen machen, dann gibt es viel einzugestehen. Wir müssen uns eingestehen, daß unsere kognitiven Fähigkeiten beschränkt sind, daß sie keine Verankerung im Absoluten, Unrelativierbaren haben, sondern als Produkt der Evolution Idiosynkrasien aufweisen, die ihr Sosein manch zufälliger Bifurkation verdanken. Dies begrenzt natürlich auch die Möglichkeiten, uns selbst und unsere Bedingungen zu erkennen. Mit diesem Schluß, mit diesem hermeneutischen Zirkel, läßt sich natürlich all das aushebeln und zur Makulatur erklären, was ich bisher ausführte. Als Wissensquelle wären dann aber nur noch Offenbarungen zulässig, die unter Umgehung unserer Kognition als direkte Evidenz erfaßt werden müßten. Solches aber findet seinen Platz nur in einem dualistischen Weltbild, das die eingangs beschriebenen Schwierigkeiten aufwirft.
Wenn wir aber an dem festhalten wollen, was wir zu wissen meinen, dann müssen wir uns eingestehen, daß wir in unseren Entscheidungen und Wertungen nicht frei sind, sondern daß die Lösungsvorschläge, die unser Gehirn erarbeitet, von all den Einflüssen determiniert sind, welche unser Gehirn geformt haben: Die evolutionären Anpassungen, die als genetische Vorgaben die Grundstruktur und damit die Basisfunktionen unseres Gehirns festlegen; die frühkindlichen Prägungen, von denen wir wissen, daß sie die Feinstrukturen neuronaler Verschaltung nachhaltig verändern können und damit direkten Einfluß auf Funktionsabläufe im Gehirn nehmen; und schließlich die Lernprozesse, die uns ein Leben lang begleiten und ebenfalls zu Veränderungen der funktionellen Architektur von Nervennetzen führen, auch wenn sich die Strukturänderungen in diesem Fall nur noch auf submikroskopischer und molekularer Ebene abspielen. Alle diese Vorgaben legen fest, was im Gehirn als je nächstes geschieht, wenn es sich in einem bestimmten Zustand befindet, wobei die jeweiligen Zustände wiederum von der Gesamtheit der vorangehenden Sinnessignale abhängen. Das Zusammenspiel all dieser Variablen legt fest, auf welchen Wegen das Gehirn sich Lösungen und Entscheidungen nähert. Auch wenn dabei einige der Variablen ins Bewußtsein dringen und wir die resultierenden Entscheidungen dann als frei gefällte wahrnehmen, bleibt festzuhalten, daß auch die bewußten Deliberationen auf neuronalen Prozessen beruhen und somit deterministischen Mechanismen gehorchen müssen.
Und schließlich müssen wir uns eingestehen, daß wir in Systeme eingebunden sind, deren Entwicklung wir weder prognostizieren noch wirksam steuern können. Erschwerend kommt hinzu, daß wir uns die Dynamik komplexer, nicht-linearer Systeme auch nicht gut vorstellen können. Weil sich hoch nicht-lineare Prozesse ohnehin kaum prognostizieren und steuern lassen, gab es in der Evolution keine Notwendigkeit, kognitive Systeme zu entwickeln, die sich komplexe nicht-lineare Vorgänge "vorstellen" können. Für die kurzen Zeitspannen, über die Prognosen überhaupt nur sinnvoll gewagt werden können, reichen jedoch lineare Annäherungsmodelle aus - und deshalb vermutlich ist unsere Vorstellungswelt eine vorwiegend lineare.
In ihrer Summe bedeuten diese Eingeständnisse, daß wir uns als Komponenten eines evolutionären Prozesses sehen sollten, der uns nicht nur hervorbrachte, sondern in den wir immer noch eingebunden sind. Wir nehmen handelnd Einfluß auf diesen Prozeß, befördern ihn durch unser Tun, müssen aber zugleich erkennen, daß unser Mitspiel nicht "freiwillig" ist und daß wir den Prozeß weder prognostizieren noch effektiv und zielgerichtet steuern können - selbst dann nicht, wenn wir alle Variablen kennten und unserer Kognition die Prozeßdynamik vorstellbar wäre.
Alles weist somit darauf hin, daß wir unsere Welt nicht unseren Bedürfnissen entsprechend frei strukturieren können. Die von uns induzierten Änderungen haben einen ähnlichen Status und Effekt wie die Mutationen in der biologischen Evolution. Sie erhöhen die Variabilität, halten den Prozeß in Bewegung, steuern ihn aber nicht. Was rückblickend als Steuerung erscheinen mag, ist in Wirklichkeit Folge von Selbstorganisationsvorgängen, die zwar festen Regeln gehorchen, aber ohne zentrale Steuerung, ohne Dirigenten auskommen.
Schlussfolgerungen
Aus diesen Einsichten lassen sich Maximen für unser Werten und Handeln ableiten, die wir ernst nehmen und umsetzen sollten. Natürlich kann die Menschheit nicht innehalten und dem Lauf der Dinge tatenlos zusehen mit der Begründung, wer nicht weiß, was er tut und was die Folgen sind, tue lieber nichts. Wir werden weiter planen, abwägen, entscheiden und handeln, da dies konstitutiv für Leben ist. Aber wir werden unser Tun vor einem anderen Hintergrund verstehen, beurteilen und rechtfertigen lernen müssen als bisher.
So werden wir eine andere Haltung gegenüber Menschen mit abweichendem Verhalten einnehmen müssen. Wir werden diese Menschen als Opfer des großen Würfelspiels begreifen lernen, die das Pech hatten, sich in der Normalverteilung der Dispositionen in einem Bereich aufzuhalten, der von der Mehrheit nicht gebilligt wird. Das ist etwas anderes als zu behaupten, es handle sich um einen bösen Menschen, der vorsätzlich Gemeines geplant und ausgeführt hat. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Sichtweise für die Behandlung des "Täters" ergeben, werden de facto jedoch nicht sehr anders sein als bisher, da sich die Gesellschaft vor Angriffen schützen muß. Wir werden also auch in Zukunft Menschen, von denen besonders große Gefahr ausgeht, durch besonders strenge Maßnahmen daran hindern müssen, anderen zur Gefahr zu werden. Aber die Begründungen werden andere sein. Wir bedürfen eines neuen Toleranzkonzepts für die Beurteilung "abweichenden" Verhaltens.
Eine weitere Konseqenz unseres Eingeständnisses ist, - und das werden die Lenker in Politik und Wirtschaft vermutlich nicht gerne hören - daß Handlungsbegründungen mißtraut werden muß, die sich mit langfristigen Prognosen zu rechtfertigen suchen. Immer dann, wenn Menschen Opfer abverlangt werden mit dem Argument, die Maßnahme führte zwar vorübergehend zu vermehrtem Leid, sei aber unverzichtbar, um auf lange Sicht diesen oder jenen erwünschten Effekt zu erzielen, ist besondere Wachsamkeit geboten. Begründungen dieser Art und sogenannten "zielführenden Maßnahmen" muß mit methodischem Zweifel begegnet werden. In vielen Fällen wird sich dann erweisen, daß die Begründungen unstatthaft sind, da sie von einer Beherrschbarkeit zukünftiger Entwicklungen ausgehen, die nicht gegeben ist. Handlungsbegründungen dieser Art sollten deshalb stets sehr kritisch geprüft werden und sie sollten vor allem dann geächtet werden, wenn die Maßnahme trotz gut gemeinter Zieldefinition auf dem Weg dahin Verletzungen an Leib und Seele von Menschen setzen könnte.
Es folgt ferner, daß jedwede Eingriffe in komplexe Systeme behutsam sein müssen. Die Evolution bedarf der Änderungen, aber diese müssen in kleinen Schritten erfolgen. Alle großen Eingriffe laufen Gefahr, tödliche Mutanten hervorzubringen. Zudem hat, wer eingreift, die Verpflichtung, auf möglichst kurzem Wege Rückmeldung darüber zu suchen, welchen Effekt die induzierte Veränderung hatte. Nur dann können Korrekturen vorgenommen werden, bevor globalere Auslesemechanismen die Fehler ausmerzen, was meist mit erheblichem Leid verbunden ist. Weil unser Wissen begrenzt und unsere Systeme nicht prognostizierbar sind, folgt zwingend, daß jeder Handelnde, der in komplexe Systeme eingreift, nur nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum vorgehen kann. Damit wird für "Lenker" von komplexen Systemen, für alle also, die Macht ausüben, der Irrtum zum konstitutiven Merkmal ihres Tuns. Wenn aber Irren unvermeidlich ist,
dann darf es nicht geächtet werden, das Eingeständnis von Irrtum darf kein Makel sein. Im Gegenteil, dem Bekenntnis zum Irrtum muß, weil dieser konstitutiv für menschliches Tun ist, ein hoher moralischer Wert zugestanden werden. Wir brauchen eine Irrtumskultur. Von denen, die Macht ausüben, verlangt sie Demut und Einsicht in die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten. Und von allen fordert sie, das Nichtwissenkönnen auszuhalten.
Da Lenker wie Gelenkte im gleichen Unwissen gefangen sind, folgt ferner, daß es in unserem System keine übergeordnete Intelligenz geben kann, auf die Verlaß wäre. Zwar wird es immer quantitative Unterschiede im jeweiligen Sachwissen geben und somit verschiedene Zuständigkeiten, aber es müßte streng darauf geachtet werden, daß Macht und Kompetenz in Deckung bleiben. Einfluß und Verfügungsgewalt müssen sich durch Kompetenz legitimieren und dürfen nicht über den Zuständigkeitsbereich hinaus sich ausdehnen. Wo keine Metaintelligenz, keine höhere Weisheit sein kann, darf Macht sich nicht konzentrieren. Es wird demnach notwendig sein, über unsere Führungsstrukturen nachzudenken. Wenn die kollektive Intelligenz aller Mitspieler optimal genutzt werden soll, dann bedarf es einer fortwährenden Optimierung von Strukturen, welche Selbstorganisationsprozesse begünstigen.
In komplexen Systemen erfordert dies einen klugen Kompromiß zwischen horizontalen und vertikalen Architekturen. Erreicht werden muß, daß das Verhalten der Komponenten aufeinander abgestimmt ist. Eine Option besteht darin, die Abstimmung sich selbst organisieren zu lassen. Dies aber bedingt, daß möglichst jeder von allen wissen sollte, um sein Tun einordnen zu können. In größeren Systemen würde vollständige Vernetzung die informationsverarbeitenden Kapazitäten der Mitspieler jedoch schnell überfordern. Ausschließlich horizontal gekoppelte Systeme sind jenseits einer kritischen Größe nicht zu realisieren, da die Systemkomponenten nicht mehr gebunden werden können. Das andere Extrem wären die vertikalen Strukturen, die wir zur Genüge aus der Geschichte kennen. Diese umgehen das Bindungsproblem durch zentrale Koordination des Komponentenverhaltens. Damit aber opfern sie die Vorteile von Selbstorganisationsprozessen. Sie vernichten die sich selbst optimierenden Regulationspotentiale distributiv organisierter Systeme. Zudem überfordern sie notwendig die Kompetenz der Koordinationszentren, da diese, wie ausgeführt, nicht über die erforderliche Steuerungskompetenz verfügen können. Deshalb funktionieren auch vertikale, dirigistische Strukturen nur in kleinen, überschaubaren Einheiten, in denen nur lineare Funktionsabläufe organisiert werden müssen. Für unsere heutigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme trifft dies schon längst nicht mehr zu. Wir müssen uns folglich auf die Suche nach neuen Kompromissen zwischen horizontalen und vertikalen Organisationsformen begeben, die der Prämisse Rechnung tragen, daß es keine übergeordnete Metaintelligenz auf Führungsebene geben kann und daß, selbst wenn sie in Führungskollektiven organisierbar wäre, sie aus prinzipiellen Gründen nicht in der Lage wäre, die Entwicklungstrajektorien des Gesamtsystems durch dirigistische Eingriffe in die gewünschte Richtung zu lenken.
Die Evolution hat eine Fülle solcher Kompromisse gefunden, und es könnte sich lohnen, einige der bereits erprobten Strategien versuchsweise zu implementieren. Die natürlich gewachsenen Netzstrukturen weisen alle recht ähnliche Kompromisse zwischen horizontaler Koppelung und vertikaler Koordination auf, die vermutlich optimale Lösungen für das Bindungsproblem in komplexen, distributiv organisierten
Systemen darstellen. Die in solchen Netzen implementierten Knoten haben dabei weniger die Funktion von Kommando- und Steuerungszentralen, sondern dienen vielmehr der Bündelung, Verdichtung und Rückverteilung von Information. Die eingebauten Knoten dienen also in erster Linie der Reduktion von Verbindungen zwischen Komponenten, indem sie diesen die für sie relevanten Informationen über den Zustand des Gesamtsystems zur Verfügung stellen und damit vollständige Vernetzung eines jeden mit jedem verzichtbar machen. Natürlich wird eine direkte Übertragung solcher, von der Evolution optimierter Netzstrukturen auf soziale Systeme nicht möglich sein, da wir als bewußte, von unseren Kulturen geprägte Wesen zu Recht zunehmend hohe Ansprüche auf die Autonomie und Unversehrtheit des Einzelnen erheben. Aber gerade deshalb sollten wir nach Strukturen suchen, die sich nicht an der Illusion orientieren, durch Metaintelligenz stabilisier- und lenkbar zu sein. Wir sollten jedweder Machbarkeitsphantasie abschwören und Strukturen erfinden, die es unmöglich machen, daß einige wenige, sollten sie solche Phantasien dennoch hegen, tiefgreifende Veränderungen im Gesamtsystem induzieren.
Was aber bleibt uns, wenn wir uns von der Utopie der Planbarkeit der eigenen Zukunft verabschieden und mit den Einsichten in unsere Begrenztheit ernstmachen - und das in einer Zeit, in der uns zudem eine konsensfähige metaphysische Verankerung abhanden gekommen ist? Vielleicht, so meine Hoffnung, könnte dies der Anstoß zur Entwicklung einer neuen Kultur der Demut sein, in der pragmatische Nahziele wie etwa Leidensminimierung, Empathiefähigkeit und Toleranz zum Primat werden. Wenn wir uns bescheiden und ablassen von finalen Projektionen, die wir ohnehin nicht durch "zielführende" Maßnahmen verwirklichen können, dann wird vielleicht der Blick frei für die vielen kleinen Änderungen, die wir gefahrlos induzieren könnten, um die Vielfalt der Daseinsmöglichkeiten zu erhöhen und zu erproben. Wenn wir uns dann auch noch in dem Konsens solidarisieren könnten, daß uns unser Nicht-Wissen-Können eint, wenn wir lernen könnten, diese kollektive Geworfenheit auszuhalten und uns nicht wie bisher durch Abgrenzung vom Anderen als besser Wissende bestätigen müßten, dann hätten wir durch die Einsicht in unsere Grenzen die Würde wiedergefunden, die uns diese Einsicht vermeintlich geraubt hat. Demut als Utopie.